Leseproben

Kapitel

BLUTDRUCKGEBER

Was war das für ein Geräusch, das aus Wolfgangs Zimmer kam? Gunter kam näher und stutze über das Äääääässssssmmmmmrrrr, aber noch mehr als er sah, wie Wolfgang gerade dabei war seinen Blutdruck zu messen. „Was machst denn du da?“ „Ich messe mehrmals am Tag meinen Blutdruck“, entgegnete Wolfgang verständnislos und mit der Überzeugung, dass dies doch wohl völlig normal sei. „Dachte du bist erst 41, da braucht man doch noch keinen Blutdruck messen!?“ Doch für Wolfgang war es normal schon seit er 30 war. Wolfgang war Krankenpfleger und Hypochonder aus Leidenschaft. Er litt mit seinen Patienten und es gab viel zu leiden! Dies war, wie sich später herausstellte, auch der Grund, warum ihn seine Frau nicht mehr sehen konnte und wollte.  Als Wolfgang das Messgerät abgelegt und in seinem Nachttisch wieder verstaut hatte, öffnete er noch drei Pillendöschen nacheinander und nahm mehrere Tabletten mit einem Schluck Wasser ein. „Es ist nur leichtes Blutdrucksenkende Mittel, ein Blutverdünner und ein niedrig dosiertes Schmerzpräparat“, sagte er schon fast entschuldigend zu Gunter. Der schüttelte nur den Kopf und ging wieder seiner Wege.  

 

„Damit darf man nicht spaßen“, ermahnte Wolfgang Michael, der sich beim Gemüse Schneiden in den Finger geschnitten hatte. Die Wunde blutete kaum, aber Wolfgang kam sofort mit Jodtinktur, Pflaster und einer Desinfektionspille, die das Immunsystem stärken sollte. Michael war froh, dass er nicht noch mit Nadel und Faden ankam, um ihn zu nähen. Wolfgang war in den Wochen, in denen er nun schon in der Wohngemeinschaft lebte, immer mit Pillen, Tinkturen und Gesundheitsratschlägen zur Stelle, selbst wenn es, wie Michael es ausdrückte, sich nur um einen Pups handelte. Es nervte einfach! Sein Pessimismus, sein destruktives, leidendes Verhalten und sein Ihr-werdet-schon-sehen-Gelaber.  

 

Die drei Ur-Musketiere waren sich einig und nun wild entschlossen, Wolfgang zu einem richtigen Musketier umzukrempeln. Doch vorerst hatte Wolfgang andere Pläne. Er wollte mit seinen neuen Freunden einen Joint rauchen, natürlich nur aus rein medizinischen Gründen. 

 

„Ihr müsst den Rauch tief und genussvoll inhalieren!“ Alle vier saßen auf dem Wohnzimmerboden und folgten den lehrreichen Ausführungen der kleinen Drogenkunde von Wolfgang. Weder Gunter noch Bertram und auch nicht Michael, dem man es am ehesten noch zugetraut hätte, hatten jemals im Leben einen Joint geraucht. Neugierig waren sie schon. Jeder von ihnen hatte nun einen selbstgedrehten Joint in den Fingern und inhalierte den Rauch. Bei Bertram trat die Wirkung am schnellsten ein. „Und spürt ihr schon was? Ist doch ein feines Stöffchen, das ich besorgt habe. Ihr werdet fliegen können, auch ohne Flügel!“ Bei Wolfgang ließ der Abflug noch etwas auf sich warten, das lag wahrscheinlich daran, dass er in seinem Leben schon einiges weggekifft hatte! Gunter fühlte sich, als würde er plötzlich unter einer Glocke sitzen. Die Stimmen der anderen wurden dumpf und wattig, so als wären sie mindestens 100 Meter weit weg. Bertram bekam das Grinsen, das sich bei ihm als Wirkung einstellte, nicht mehr aus dem Gesicht - als wären seine Backen an den Ohren angetackert worden. Michael hatte mit solch einem schnellen Rauschzustand nicht gerechnet. Bei ihrem Pokerabend benötigte er fünf Whiskys und eine halbe Stunde, um ähnlich drauf zu sein. „Geiles Zeug“, kommentierte Gunter, der seinen Freunden aus der Ferne dies noch kurz mitteilen wollte. Michael empfand einen Frieden in sich und hatte nur schöne Gedanken. Er war unbeschwert, frei und hatte keine Ängste. Seine latente Wut auf die Welt war verschwunden. Er nahm nur noch sich wahr, seine Umwelt war völlig ausgeblendet. 

 

Bertram wechselte nach ca. 5 Minuten vom Grinsen zum Lachkrampf. Warum er lachte, wusste keiner. Wolfgang, der Profi unter den Amateur-Junkies legte Pink Floyd auf, damit es, wie er sagte, noch besser abgeht!  Jeder war nun für sich. Jeder empfand seinen eigenen ganz persönlichen Rauschzustand. 

 

Der Morgen danach war weniger leicht und friedlich. Man konnte nicht eindeutig ausmachen, wer auf den Boden gereihert hatte. Das Los entschied! Halskratzen und eine nicht abklingen wollende Benommenheit hatte noch jeder. Michael hätte schwören können, dass er sogar eine Erektion von dem Zeug bekommen hatte - und was für eine! 


Kapitel

HYPOCHONERWOHL

 

„45, 46…“ Wolfgang lag auf dem Boden und machte Bauchaufzüge oder Sit-Ups wie man es heute nennt. Überhaupt war Wolfgang nach nun fast sechs Monaten ein neuer Mensch geworden. „Wir sollten uns WG-tarier schützen lassen, das scheint gesundheitsförderlich zu sein“, hatte Bertram vor kurzem in einer gemütlichen Abendrunde gesagt. Und in der Tat, es ging ihnen allen blendend. Gunters und Bertrams Therapiestunden bei Dr. Reimer fanden in immer größeren Abständen statt, irgendwie therapierten sie sich selber. Was exakt der Auslöser war, warum sich Wolfgang zum Positiven verändert hatte, wussten sie nicht, aber allen fiel es auf. Er strotzte vor neuer Lebenskraft. Offensichtlich hatte jeder auf seine Art auf Wolfgang Einfluss ausgeübt. 

 

„Übertreib mal nicht“, rief Michael ihm zu und ärgerte sich insgeheim, dass er selbst schon meist nach 30 Bauchaufzügen schlapp machte. „Nicht dass es dir wieder in den Rücken fährt!“ „Keine Sorge, der ist in bester Verfassung“, antwortete Wolfgang energiegeladen. Er kam dynamisch hoch, ging zu seinem Boxsack, der seit neuestem in seinem Zimmer hing, tänzelte wie ein richtiger Boxer um ihn herum und schlug immer wieder mit kräftigen Schlägen und lauten Ausatemgeräuschen auf ihn drauf. Wolfgang war nicht mehr depressiv oder brauchte auch nicht ständig irgendwelche Pillen. Er hatte in der Männer-WG ein neues Lebensgefühl entdeckt. Er war plötzlich vielseitig interessiert. Die diversen Theater-, Musik-, Kunst- und Sportveranstaltungen, auf die ihn die Jungs mitnahmen, hatten eine heilende Wirkung auf ihn. 

 

Nur auf Bertrams eifriges Werben, auch Borussia Fan zu werden, reagierte er nicht. Sie hatten irgendwann mal in einer Art Zeremonie seine ganzen Pillenschachteln und Fläschchen im Garten vergraben. Das Blutdruckgerät machte ein letztes Mal Äääääässssssmmmmmrrrr, als sie wie bei einer Beerdigung Sand in die Grube warfen. Vermutlich wehrte es sich gegen die Ausmusterung.   


Kapitel

BANKHELD

Gunter stand mit seiner schweinsledernen Aktentasche, die ihn schon seit 15 Jahren zur Arbeit begleitete, auf der obersten Treppenstufe ihres Hauses. Es waren gerade mal 14 Stunden vergangen, als sie von dem staatlich geprüften Wildnisführer aus dem dunklen, nassen, kalten Schwarzwald gerettet wurden. Die letzten drei Tage des Survival-Wochenendes gingen ihm noch mal durch den Kopf, während er auf der Stufe wie angewurzelt feststand, unfähig sich noch weitere drei Stufen hinabzubewegen. Ihm taten alle Muskeln und Knochen weh, auch solche, die er bis dahin nicht mal in seinem Körper wahrgenommen hatte. Eigentlich war er unfähig jetzt ins Geschäft zu gehen, doch er war, dank seiner Erziehung,  durch und durch pflichtbewusst. Da gab es kein ich habe heute keinen Bock, wie es heutzutage bei vielen üblich war. Aber ehrlich gesagt hatte er an diesem schrecklichen Morgen wirklich keinen Bock zu arbeiten, vielleicht lediglich ein guter Tag zu sterben!

 

Sein motorischer Kortex im Gehirn gab ihm nun den Befehl, den ersten von vielen mühsamen Schritten zu seiner Bank zu machen, bei der er arbeitete. Seine Nase lief bereits schon, als sich seine Beine endlich auch in Bewegung setzten. „Tschüssss, mein Schatz, ich wünsch dir einen schönen Tag“, rief Michael ihm hinterher, der mit einer Kaffeetasse in der Hand in T-Shirt und Boxershorts im Haustürrahmen stand. Er wollte lustig sein und die Ich-will-mal-richtig-Mann-spielen-Pleite überspielen. Er wollte vor allem Gunter gütig stimmen, da dieser am meisten an diesem Wochenende gelitten hatte, was ihm aber offensichtlich nicht gelang. Gunter und Bertram hatten ihn noch lange mit seinem Monster-Igel aufgezogen, der Michael zu Tode erschreckt hatte. Ja, da hatte sich Michael bis auf die Knochen blamiert und er hoffte inständig, dass sie es nicht weitererzählen würden, schon gar nicht Hans. Er würde sich wahrscheinlich über Michael kaputtlachen.

 

Gunter drehte sich nicht um, er schüttelte lediglich leicht den Kopf über Michaels kleinen Scherz - mehr ging wahrscheinlich auch nicht, da sein Nacken ebenfalls steif war - und trottete mit hängenden Schultern und schweren Schritten den Weg zur Straße hinunter.  „Warum habe ich nicht Montag frei gemacht, warum nur, ich bin soooo müde, ich fühle mich wie durchgekaut und ausgespuckt“,  ging es in einer Endlosschleife durch Gunters Kopf. Jeder Schritt war eine Qual für sich. Michael schaute hinter ihm her, schloss die Tür wieder hinter sich zu. Während er noch einmal in die Küche ging, um ein weiteres Brötchen zu essen - er musste ja wieder zu Kräften kommen - stellte er sich die Frage, die ihn schon so lange beschäftigte, eigentlich von Anfang an: „Wie schaffe ich es, aus Gunter einen Mann zu machen, einen Helden, zu dem die Frauen aufschauen?“ Nachdem er Gunters Auftritt beim Survival-Wochenende, den schlappen Abgang heute Morgen sowie das Bild von Gunter in seiner Küchenschürze vor seinem geistigen Auge noch einmal vorbeiziehen ließ, war ihm klar, dass ihm das wahrscheinlich nie gelingen würde. Egal, er mochte Gunter auch, so wie er war. Dann biss er in sein drittes Brötchen für heute, las die Tageszeitung, bei der er übrigens arbeitete und machte sich auf einem Zettel eine Notiz, dass er sich nachher noch krankmelden musste, er hatte keinen Bock!

 

Als Gunter endlich und sichtlich gebeutelt den Schalterraum betrat, und bereits die ersten spöttischen Kommentare seiner Kollegen kamen, war er sich schon sicher, dass es nicht sein Tag werden würde. Hätte er ihnen nur vorweg nichts von dem Wochenende erzählt, dann müsste er sich jetzt auch nicht Worte wie Schwarzwaldtarzan oder Pfadfinderkönig anhören. Er schwor sich, während er seine Kollegen unsicher angrinste, ihnen nichts mehr, aber auch gar nichts mehr zu erzählen. Er war tatsächlich 4 Minuten zu spät gekommen, was ihm die letzten 15 Jahre nicht passiert war, aber er hätte beim besten Willen nicht schneller laufen können. Das alleine war ihm schon peinlich genug. Er holte seine Thermoskanne aus der Tasche und legte diese zusammen mit seinem belegten Brot, das ordentlich in einer Papiertüte verpackt war,  auf die Ablage hinter sich, bevor er seinen Bankschalter öffnete. Der Morgen lief soweit ruhig, dank der Routine ging die Arbeit noch erstaunlich gut von muskelkatergeplagten Hand.

 

Er hörte Rudi, den Rauhaardackel,  noch bevor er sein Frauchen Else Müller sah. Er wusste ja bereits beim Aufstehen, dass dieser Tag kein guter werden sollte, aber dass es so schlimm werden würde, damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Er atmete noch dreimal tief durch, dann hatte Frau Müller seinen Schalter erreicht. Die Kollegen, die Frau Müller auch kannten, grinsten Gunter ein weiteres Mal an. Warum nur er!? Er wusste es auch nach vielen Leidensjahren nicht, warum sie immer seinen Schalter aufsuchte. Vielleicht erinnerte Gunter sie an ihren Sohn, von dem sie gerne ausschweifend erzählte. Das tat sie, auch wenn bereits eine Schlange hinter ihr anschwoll und die Kunden ungeduldig Gunter mit den Händen Zeichen machten, dass er sich beeilen solle. Aber nicht Frau Müller war sein Problem, sondern Rudi. Rudi der Dauerbeller. Noch nie zuvor hatte er einen Hund gesehen, der immer bellte. Wahrscheinlich machte er nur beim Fressen eine kurze Pause. Rudi bellte auch heute was das Zeug hielt, was Gunters Kopf schon nach wenigen Sekunden schier zum Platzen brachte. Gunter lächelte Frau Müller an, es war ein gequältes Lächeln, ein Zähne zusammenbeißendes Ich-bringe-gleich-diese-Töle-um-Lächeln. „Guten Morgen junger Mann!“, begrüßte Frau Müller Gunter zackig und mit für ihn heute viel zu viel Elan, noch ehe er sein Standardsprüchlein aufsagen konnte: „Guten Morgen Frau Müller, schön dass Sie uns mal wieder beehren.“ Er war sich sicher, dass Frau Müller nicht alles verstanden hatte, denn Rudis lautes Gebell erhöhte sich noch mal um einige Dezibel. Beachtete man Rudi nicht, quittierte dieser es mit noch lauterem Bellen. „Hallo Rudi“, setzte Gunter nach und blickte zu Rudi in Richtung Boden. Er wollte nicht riskieren, dass Rudi noch lauter wurde und sein Innenohr komplett kollabierte. Man hätte ein Buch über diese Situation schreiben können, so skurril war sie. Fr. Müller legte vier Überweisungen vor, wollte Geld von einem Konto zum anderen transferieren, sich noch mal über die neusten Geldanlagen informieren, denn Geld hatte sie zuhauf, soviel Gunter in seinem Computer sehen konnte. „Bitte geben sie es mir in fünf Fünfzigern, vier Zwanzigern, ein Zehner und den Rest für meine Enkel in Zwei-Eurostücken“, drang es schwach, unterlegt von lautem Gebell, an Gunters Ohr. Frau Müller wollte noch 350 € von ihrem Girokonto abheben. Er bemühte sich alles konzentriert abzuwickeln, aber so anstrengend war es ihm noch nie vorgekommen. Rudi trampelte auf seinem dünnen Nervenkleid herum, seine Geduld war kurz vor dem endgültigen Aus. Dann passierte das, was sich kein Bankfachangestellter je in seinem Leben wünscht. Gunter konzentrierte sich gerade auf das Abzählen der Scheine und Münzen für Frau Müller, als ein Maskierter diese zur Seite stieß und mit vorgehaltener Waffe zu Gunter herüber schrie: „Hey Alter, her mit der Kohle, alles was du hast, aber PRONTO!!!!“. Rudi war so aufgebracht über den Rempler von Frauchen, dass er sich fast mit Bellen überschlug.  Gunter hatte nun endgültig die Nase voll von diesem Tag. Michael mit seiner verblödeten Survival-Idee, sein geschundener Körper, Frau Müller mit ihren dämlichen Auszahlungen und Überweisungen, konnte sie nicht wie andere an den Automaten gehen und jetzt dieser, dieser Aaaarsch von Bankräuber, der ihn auch noch Alter nannte. Pures Adrenalin schoss im Übermaß in seinen Körper, sein Kopf wurde rot wie eine überreife Tomate, seine Fäuste ballten sich, er war plötzlich blind vor Wut. In diesem Moment, biss Rudi, in dem Fall der gute Rudi, herzhaft in das Bein von diesem lausigen Kleinkriminellen, der offensichtlich nicht mit Gunters und Rudis Laune gerechnet hatte. Etwa zeitgleich, gerade als sich der Bankräuber mit schmerzverzerrtem Gesicht Rudi zuwendete, schoss Gunter wie Superman über die Theke.

 

Auch die Beamten, die später die Videoaufzeichnung sichteten, waren beeindruckt von Gunters Sprungkraft. Sie waren selbst nach dem 10. Hin- und Her-Spulen und trotz Zeitlupenbetrachtung nicht dahinter gekommen, wie Gunter es geschafft hatte, die Theke in dieser Stuntmanreifen Manier zu überwinden. Der Maskierte sah durch den schmalen Maskenschlitz nur noch den fliegenden Gunter auf sich zu segeln, bevor er beim Zurückfallen auf den guten, aber leider sehr harten Marmorboden mit dem Hinterkopf aufschlug und es Nacht um ihn herum wurde. Gunter trommelte noch wie ein Profiboxer mit einigen Haken auf ihn ein, all seine Wut entlud sich explosionsartig. Danach sank er völlig erschöpft und weinend neben dem Bankräuber nieder. Mit einem Mal war es still geworden, sogar Rudi saß nun friedlich neben Gunter und schleckte freundschaftlich seine Hand, die er sich beim Kampf verletzt hatte.

Nachdem sich der erste Schock aller Anwesenden gelegt hatte, hörte man plötzlich Hände klatschen, dann mehr und noch mehr bis alle um Gunter, der immer noch in einer Art Trancezustand war, herumstanden und ihm für seine Tat applaudierten. Einige Männer sicherten die Waffe, bei der sich später herausstellte, dass es sich um eine Schreckschusspistole gehandelt hatte. Auch fesselten sie den Täter sicherheitshalber, der aber noch selig am Boden schlief. Jetzt vernahm man bereits die Sirenen der Polizei in der Ferne, die durch einen Alarmknopf über den Überfall informiert worden war. Was für ein Scheißtag, dachte Gunter als er sich, über sich selbst sichtlich erstaunt, vom Fußboden aufrappeln wollte. Das glauben mir meine Jungs bestimmt nicht, waren seine letzten Gedanken, dann wurde es schwarz um ihn, so schwarz wie die Nächte im Schwarzwald.


Kapitel

MÄNNEREHRE

Michael stützte sich auf Gunter und Bertram, als sie ihre Stammkneipe „Zum goldenen Bierhahn“ betraten, Michael humpelnd mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht. Die Blicke aller im Raum waren auf ihn gerichtet, er war für einen kurzen Augenblick der Mittelpunkt. Michael genoss seinen, nach Gunters  Meinung, etwas überzogenen, theatralischen Auftritt. „Hey, was ist los mit dir, hast du dir etwa beim Blumenpflücken den Knöchel verstaucht?“, frotzelte eine bekannte Stimme über die Theke hinweg. Hans, der seine weichgespülten Pappenheimer kannte, grinste ihnen mit einem breiten Lächeln entgegen. Er nahm sie immer gerne etwas hoch. Aber er freute sich, sie endlich mal wieder in seinem Lokal zu sehen, da sie sich die letzte Zeit etwas rar gemacht hatten. „Hey, lach nicht, ich hätte mir beinahe den Fuß gebrochen“, kam es von Michael zurück. „Beinahe“ war das Stichwort für Hans um weiter zu bohren. Man sah keinen Gips, nur einen hinkenden Michael. „So wie beinahe schwanger?“, foppte Hans weiter. Er roch, dass Michael übertrieb. Gunter und Bertram schmunzelten leicht und drehten den Kopf zur Seite, als wollten sie nichts damit zu tun haben, denn sie wussten, dass Michael nur einen angeknacksten großen Zeh hatte. Er hatte schon im Krankenhaus ein Riesen-Spektakel veranstaltet. Er wollte unbedingt einen Gips, wobei, wie der behandelnde Arzt sagte, es sich nur um eine geringfügige Verletzung handelte. Er ließ sich Schmerzmittel verschreiben und einen Tapeverband zur Ruhigstellung des Zehs anlegen, wenigstens das. Sie mussten in der nächsten Sitzung bei Dr. Reimer das Thema Selbstbewusstsein unbedingt mal ansprechen, soviel stand fest. Es war ihnen klar, dass mit einem Gips mehr Mitleid zu erhaschen war, womöglich wollte er Daniela damit ein schlechtes Gewissen machen. Ja, in seinem Kopf war einiges verschoben.

 

„Einen fast gebrochenen Zeh?“, fragte Hans noch mal nach, während er drei Bier für sie zapfte. Er strahlte über beide Backen. „Man seid ihr Helden! Ihr würdet nicht mal einen Kindergeburtstag überleben!“ Hans machte sich lustig über sie! Na, das hatte Michael sauber hinbekommen, jetzt bekamen sie es alle ab. „Nix da, nur Michael ist so eine Jammerflöte“, protestierte Bertram, der aber damit böse Blicke von Michael erntete. „Ihr seid einfach keine harten Kerle, auf die die Frauen so stehen.“ Hans zog vom Leder, während die drei wie belämmert an der Theke standen und an ihrem Bier nuckelten. „Du“, und dabei zeigte er auf Gunter, „du bist eine geborene Hausfrau - kochen, waschen, bügeln! Wahrscheinlich trägst du dazu noch eine Schürze.“ Gunter war betroffen, woher konnte er das wissen, dass er wirklich eine Schürze benutzte. Hatte einer seiner Mitbewohner es mal ausgeplaudert? Noch während Gunter intensiv über das Gesagte von Hans nachdachte und er es auch nach mehreren Hin und Her immer noch für praktisch hielt, bei der Arbeit eine Schürze zu tragen, holte Hans zu einem Rundumschlag aus. „Und du“, jetzt kam Bertram doch auch noch dran, was er eigentlich nicht gehofft hatte, „du wirst noch heute von deiner Mutti gelenkt wie ein Hundchen an der Leine!“ Autsch, das saß! Bertram zuckte regelrecht zusammen, als er das Unwort Mutti hörte. Aber wo Hans Recht hatte, hatte er Recht.

Selbst nach zig Therapiestunden konnte er sich noch nicht richtig gegen seine Mutter durchsetzen. „Und hier euer Held“, ja, sie waren zu dritt und nun kam zu guter Letzt Michael an die Reihe, „macht hier eine mittelschwere Show wegen eines fast gebrochenen Zehs!“ Hans schüttelte nur den Kopf mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. „Aus euch muss man erst noch Männer machen!“ 8, 9, 10, AUS! KO-Schlag in der ersten Runde. Und genauso fühlten sie sich. Niedergeschlagen, in ihrer männlichen Ehre, also wenn schon nicht männlich, dann wenigstens Ehre, verletzt. „Ihr müsst mal ein richtiges Überlebenstraining, einen „Survival-Trip“, oder wie das neumodisch heißt, machen. Eine Woche durch einen Dschungel oder so.“ Hans ballte die Faust, zeigte seine kräftigen Unterarme zum Zeichen der Männlichkeit und des Ansporns. „Werdet mal richtige Männer!“

 

Richtige Männer klang ihnen immer noch in den Ohren, als sie nach der kurzen Lokalrunde wieder zu Hause angekommen waren. Ja, es war in der Tat ein kurzes Intermezzo in ihrer Kneipe gewesen, Ex-Kneipe. Nein, Hans hatte ja irgendwie Recht. Sie saßen im Wohnzimmer und dachten über die Situation nach, jeder für sich. Die Stille lag bedrückend im Raum. „Ab sofort ziehst du keine Schürze mehr an“, kam es aus Michaels Mund geschossen. Er war voller Dynamik aufgesprungen und zeigte auf den immer noch in Gedanken versunkenen Gunter. Sein Zeh tat offensichtlich nicht mehr weh. Michael, der Mann Michael, der Urkerl von Michael, meldete sich. „Schluss mit dem Weiberkram“, und er begann mit einer feurigen Rede, seine Augen leuchteten voller wiedererwachter männlicher Leidenschaft. Gunters Argument, dass eine Schürze beim Kochen vor Spritzern schütze, wischte Michael weg. Auch dass er dann mehr Hemden mit Kochflecken waschen müsste, ließ Michael nicht gelten. „Wir sind völlig verweichlicht!“ Michael stand immer noch mit geschwellter Brust im Raum, lief auf und ab, fuchtelte bei seiner enthusiastischen Rede wild mit den Händen und gestikulierte so professionell wie ein Politiker. Schön, dass er das Wort WIR benutzte und nicht nur Gunter und Bertram damit meinte.

Michael gab noch mal Gas, aktivierte seinen Turbolader und sprühte vor Kreativität. „Wir richten uns ein Fitnessstudio hier ein, mit Hanteln und Kraftmaschinen. Wir stählen unsere Körper“, dabei klopfte Michael auf seinen kleinen Bauchansatz, der sich über die letzten Monate geformt hatte. Für wen hätte er sich auch in Form halten sollen. Für Daniela? Das Kapitel war beendet, das akzeptierten nun auch seine letzten kleinen grauen Zellen. Für andere Frauen? Fehlanzeige! Seit Monaten! Er hatte schon vergessen wie es war, mit einer Frau zu schlafen. Egal, jetzt hatte er ein neues Projekt, das ihn von all seinen Problemen ablenken würde. Er verspürte jetzt nicht einmal mehr den Schmerz in seinem großen Zeh, vermutlich war das Adrenalin, das durch seine Adern floss, so betäubend. „Und wenn wir stark genug sind, machen wir einen Survival-Trip zusammen“, kam noch die für Gunter und Bertram verunsichernde Krönung von Michael.

 

Die beiden saßen leicht verstört da, noch nicht fähig klar zu denken. Sie sahen sich schon in einem Militärcamp, in Schlammpfützen robbend und über hohe, sehr hohe Hindernisse kletternd. Ihre Nacken wurden steif und ihre Mägen verkrampften sich. Hatten sie jetzt Arni, den Terminator, den Hasta-la-vista-baby-Mann in ihren Reihen? Herr, lass die dunklen Wolken vorüber ziehen, dachten sie und verschwanden mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen in ihre Zimmer. Michael machte noch Liegestützen an der Lehne des Sofas. Er wollte sofort beginnen, wieder ein richtiger Mann zu werden. Und morgen würde er sich gleich im Internet nach einem Survival-Trip erkundigen.

 

Seeeechsundviiiierzig, Siiiebenundviiiierzig hörten Gunter und Bertram es noch aus dem Wohnzimmer

schallen, bevor sie unruhig und noch unmännlich einschliefen. Hasta la vista, Baby!


Kapitel

GEFÜHLSDUSELEI

„Hr. Heiner, erzählen sie uns doch allen hier in der Gruppe, was für ein Gefühl in ihnen ausgelöst wurde, als ihre Frau sie vor vollendete Tatsachen stellte. Was passierte da mit ihnen?“ Dr. Reimer, der Therapeut, kannte die ganze Vorgeschichte, die Strafe für Michael und hatte sich bereit erklärt, Michael für eine Sitzung in der Gruppe aufzunehmen. „Es war natürlich ein Scheißgefühl, was sonst!“, antwortete Michael barsch. Er sperrte sich, aber das erging allen am Anfang so. Michael hatte gehofft, dass die beiden durch die Renovierungsarbeiten, die noch einen ganzen Monat angedauert hatten, die Wiedergutmachungstat vergessen würden. Aber mitnichten, als hätten sie es sogar irgendwo notiert. Denn es war kaum der Schaden durch den Wasserrohbruch beseitigt und der Umzugswagen wieder vom Hof, da kamen sie schon mit dieser für Michael mehr als unangenehmen Geschichte an.

 

„Beschreiben sie uns doch im Detail ihre Gefühle, Gedanken und Ängste, die sie dabei empfanden“, bohrte Dr. Reimer nach. So schnell wollte er seinen neuen, tollen Hecht im Karpfenteich nicht von der Angel lassen. Sein psychologischer Jagdinstinkt war geweckt, er witterte Schwäche unter Michaels harter Schale.

 

Nach mehr als zwei Stunden war die Therapiesitzung zu Ende. Michael war die ganzen zwei Stunden der Mittelpunkt der Sitzung. Dr. Reimer hatte ihm trickreich alles entlockt, obwohl Michael angetreten war nichts zu sagen. Er brauchte ja keine Therapie, er war ja schon ein richtiger Mann.
 „Jetzt renn doch nicht so, es ist doch nicht schlimm über Gefühle zu reden. Du hast es gut gemacht, du hast dich ein Stück weit geöffnet“, sagte Bertram und trottete etwas außer Atem hinter Michael her, der den Therapieraum fluchtartig verlassen hatte. „Aaaber iiich wollte mich nicht öffnen, das war ein fieser Trick von diesem Seelenklempner. Ich habe mich so blamiert. Ich hatte das Gefühl alle haben mich innerlich ausgelacht.“ „Keiner hat gelacht und alle haben mit dir gefühlt, als du kurz geweint hast“, sagte Gunter und kaum war das letzte Wort über seine Lippen gekommen, drehte sich Michael abrupt um und hob drohend seinen Zeigefinger. „Wehe du sagst nur ein Sterbenswörtchen zu irgendjemandem, dann, dann…“ Michael war völlig durch den Wind und brachte keinen Ton mehr heraus. Er hatte von Anfang an Bedenken gegen diesen Psychokram, diese Gefühlsduselei, das Gut-dass-wir-darüber-gesprochen-haben-Blablabla gehabt. Er und heulen! Pah, es war nur die trockene Luft in dem Raum, die seine Augen tränen ließen oder eine Wimper, auf jeden Fall keine Rührung. Michael sah sich schon als Gunter mit Schürzchen am Herd stehen. Jaaa, es tat ihm vieles Leid, vor allem der Schmerz, den er seiner Familie bereitet hatte. Aber zum Teufel noch mal, er konnte es jetzt nicht mehr rückgängig machen. Sie hatte ihn vor die Tür gesetzt, Ende aus Amen. Er war nun allein, ohne seine Familie. Und schon wieder wollte sich eine Träne aus seinem Auge lösen, die er jedoch in letzter Sekunde abfangen konnte. Michael beschleunigte seinen Schritt und schwor sich, in Zukunft einen großen Bogen um jeden Psychokramladen zu machen. 

 

„Michael, nun wart doch, wir müssen im Baumarkt noch einige Teppichleisten holen!“ Ja, Baumarkt, das hörte sich gut an! Endlich war Michael wieder in seiner Männerwelt, denn im Baumarkt hatte er noch keinen Mann weinen sehen!


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WASCHKUNDE

 

„Hellbunt, dunkelbunt, was faselst du für einen Mist. Bunt ist bunt!“ Michael stand zusammen mit Bertram und Gunter in der Waschküche, der mit ihnen einen Einweisungskurs in Sachen Wäschewaschen abhielt. Bertram ging es genauso wie Michael, sie verstanden nur Bahnhof. Gunter, der Saubermann, die Clementine ihrer Wohngemeinschaft, holte noch einmal aus: „Ihr müsst die Wäsche vorsortieren. Ihr könnt nicht alles in die Trommel stecken und es dem weißen Riesen überlassen, dass es sauber wird! Ihr sortiert weiße, hellbunte und dunkelbunte Wäsche. Weiße kann man z.B. bei 60°C waschen, die andere, Feinwäsche bzw. Buntwäsche, bei 30°C.“ Michael und Bertram schwirrte der Kopf, doch Gunter machte gnadenlos weiter. Michael kam sich vor wie in einem Ausbildungscamp für Hausfrauen. Fehlte nur noch, dass sie 20 Liegestützen vor der Waschmaschine machen mussten. „Wenn ihr einen neuen Pullover habt, würde ich euch raten, ihn beim ersten Mal von Hand zu waschen, sonst könnt ihr ihn, wenn ihr Pech habt, hinterher in den Kindergarten geben. Wenn der Pulli hingegen schon mehrfach gewaschen wurde, gibt es hier rechts einen Knopf für Wollschleudern.“ Bertram und Michael schauten sich ungläubig an und waren sicher, es niemals zu verstehen. „Schaut im Zweifelsfall auf das Etikett, da steht alles drauf, wie jedes einzelne Kleidungsstück gewaschen werden muss.“ „Zu welcher Kategorie zählt dieses weiße Hemd mit hellblauen Streifen, hä?“, fragte Michael provokant mit einem frechen Grinsen im Gesicht, doch Gunter wusste zielsicher die Antwort: „Hellbunt natürlich, pass halt auf, wenn ich dir was erkläre!“,

antwortete Gunter barsch.

 

Gunter deutete nun auf die einzelnen Fächer in einem Auszugsfach an der Waschmaschine und gab wie ein Oberschullehrer weitere Anweisungen. „Und hier kommt das Waschmittel rein und hier der Weichspüler. Bei dunkelbunter Wäsche immer flüssiges Feinwaschmittel nehmen, kein Pulver, sonst kann es Flecken geben. Im Pulver sind Bleichmittel…“ Die Worte von Gunter verblassten, als hätte Michael eine Valium-Tablette eingeschmissen. Ganz aus der Ferne drangen noch Worte wie Waschkraft, Schleuderzahlen und Zeitprogramme an Michaels Ohr, aber er hatte sein Waschanleitungskurs-Aufnahmeprogramm bereits beendet und schweifte gedanklich ab.

 

Michael hatte früher alles immer nur im Bad auf den Fußboden geworfen und dann war es plötzlich wie von Zauberhand gewaschen und gebügelt wieder in seinem Schrank aufgetaucht. Wer hätte gedacht, dass man für so was ein Ingenieurstudium braucht!? Michael war felsenfest davon überzeugt, dass Frauen und in diesem Fall auch Gunter so ein spezifisches Wasch-Gen in sich trugen und er nicht! Daher konnte er dies aus evolutionstechnischen Gründen auch niemals erlernen!

 

Gunter war die Allzweckwaffe in ihrem Haushalt. Ohne ihn wäre die WG schon längst verhungert oder im Dreck versunken. Als Gunter anfing, über die Symbolik auf den Etiketten zu referieren, über Dreiecke und Quadrate mit Punkten, durchgestrichen oder auch nicht, und so vertieft war in seine Ausführungen, schlichen sich die beiden heimlich davon. Sie befürchteten, dass Gunter auch noch das große Bügeleinmaleins durchgehen wollte und damit wären sie eh restlos überfordert gewesen. Und mehr als das Wissen, wie man Hellbuntes wäscht, konnten und wollten sie sich beim besten Willen nicht aneignen. Und es gab ja immer noch die Reinigung zwei Straßen weiter!


Kapitel

DISCOFIEBER

„Wo ist der Wochenend-Anzeiger? Ich hatte ihn doch hier auf den Wohnzimmertisch gelegt. Immer fehlt was!“ „Was bist du denn so genervt?“, fragte Bertram Michael, der alles anhob, um die gesuchte Zeitung zu finden. »Ich wollte nur mal schauen, was am Wochenende so los ist. Ich muss mal wieder unter Leute!“ „Du meinst Frauen?“, sagte Gunter lächelnd, „hab mich eh schon gewundert, dass du es so lange aushältst. Du, als Ausgeburt der Männlichkeit“, spöttelte er weiter. „Von mir kannst du was lernen!“, sagte Michael forsch. „Und was?“ „Na, wie man Frauen aufreißt!“ „Lass mich mal nachrechnen: Du hattest Minimum seit einem halben Jahr keine Frau und du willst uns zeigen, wie das geht! Dass ich nicht lache!“ Das Geplänkel zwischen Michael und Gunter ging weiter. „He, das ist wie Fahrradfahren, das verlernt man nicht! Ich beweise es euch! Lasst uns am Samstag auf die Pirsch gehen, dann reiß ich euch ein paar Frauen auf. Ihr müsst nur sagen, was ihr wollt. Blond, braun oder rothaarig“, posaunte Michael großspurig. „Oh, der große Meister lässt uns einen Blick in seine Trickkiste werfen.“ Bertram schaute dem kleinen Schlagabtausch der beiden mit gemischten Gefühlen zu. Ausgehen, Frauen aufreißen, das klang für ihn wie Fremdwörter.

 

Nachdem Michael die Zeitung durchgelesen und ein gepflegtes Tanzlokal, wie er sagte, für sie ausfindig gemacht hatte, gab es für Gunter und Bertram kein Zurück mehr. Michael war so heiß auf das erwartete Vergnügen. Am Vortag ging er extra noch einmal zum Friseur, obwohl er erst eine Woche zuvor gewesen war. Auch ein neues Hemd musste her, schick und jugendlich, für Bertrams Geschmack zu flippig. So laufen junge Männer rum, aber keine mit 43, dachte er. Aber er wollte Michael den Spaß nicht verderben. „Darauf fahren die Frauen ab“, war sein Ausspruch, als Michael den Jungs seine neueste Anschaffung stolz vorführte. Gunter und Bertram waren da völlig anders gestrickt und auch kleidertechnisch nicht entsprechend ausgestattet.

 

„Das kannst du doch unmöglich anziehen, so geh ich nicht mit dir weg“, sagte Michael entsetzt, als Gunter sein rot-grün-blau kariertes Sakko präsentierte. Und von dem fliederfarbenen Hemd, so Michael, würde man Augenkrebs bekommen. Der gemeinsame Abend war nach Gunters heftiger Gegenwehr stark gefährdet. Nach einigem hin und her konnten sich die beiden auf einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd einigen. Bertram hatte nach der heftigen Debatte in Gunters Zimmer schon mal das Flotteste, was sein Kleiderschrank hergab, herausgelegt und es wurde prompt und ohne bissigen Kommentar von Michael genehmigt. Was für ein Stress, für so ein bisschen Unterhaltung dachte Bertram, dem alles immer noch nicht ganz geheuer war.

 

Michael hatte ein Taxi gerufen, weil er in jedem Fall, und er empfahl es auch den anderen beiden, zur Auflockerung etwas Alkohol zu sich nehmen wollte. Zu steif, das kommt nicht gut an, resümierte er voller Stolz auf seinen schier unbegrenzten Erfahrungsschatz. Bertram und Gunter schwiegen sich nur an und harrten der Dinge, die da kommen sollten.

 

Das Taxi fuhr vor das Blue Motion, ein Tanzlokal in der Innenstadt, die Adresse für einen erfolgreichen Männerabend, so zumindest Michael. „Irgendwie sehen die Leute hier alle um 10 - 20 Jahre jünger aus als wir“, bemerkte Gunter und fühlte sich sofort wie ein Fremdkörper in dieser Glitzer-Welt, die nicht seine war. Auch Bertram sah nicht aus, als würde er sich wohlfühlen. „Ach was, das wird schon, entspannt euch“, kam es enthusiastisch aus Michaels Mund geschossen, der aus dem Taxi sprang, als wollte er keine Zeit verlieren.
Gunter und Bertram hatten den Abend bereits in der Gruppe thematisiert und waren zu dem Schluss gekommen, dass sich eine Meinung nur bilden ließe, wenn man - in diesem Fall Bertram und Gunter - das entsprechend ausprobierte. Die anderen in der Gruppe hatten gut Reden, sie mussten ja nicht mit!

 

„Hey, auf geht’s, macht mal keine solche Trauermienen!“, rief Michael ihnen freudig erregt zu. Er kam ihnen vor wie ein Kind kurz vor der Bescherung und die sollte im wahrsten Sinne des Wortes für Michael noch kommen. Nachdem sie an den Securities vorbei waren, die sie argwöhnisch beäugten, nein, eher belächelten, ging es einen langen Flur entlang. Michael drehte sich nach den Frauen um, die ihnen entgegen kamen, nach jeder einzelnen! Die Musik wurde nun immer lauter und dann betraten sie den Hauptteil der Disco. Von wegen, gepflegtes Tanzlokal, dachte Gunter. Er kam sich nun völlig overdressed vor in seinem schwarzen Anzug. Grelle Lichtblitze zuckten durch den Saal und überall hüpften junge Teenager zum Takt von Technomusik. Bam, bam, bam hämmerte der Beat in Bertrams Bauch. Die Kommunikation zwischen den Dreien kam angesichts der Lautstärke völlig zum Erliegen. „Waaas woooollt iiiihr trinkeeeen?« schrie Michael aus Leibeskräften und nur durch seine zusätzliche Handbewegung und den lippenleserischen Fähigkeiten der beiden Angesprochenen war es möglich, ungefähr zu erraten, was er wollte. Doch ohne die Antwort abzuwarten - es wäre wahrscheinlich eh nicht möglich gewesen, sie zu verstehen - ging Michael an die Bar und kam mit drei Drinks zu ihnen zurück. Es war eine Kunst, wie Gunter dachte, dass er die drei Gläser ohne nennenswerte Inhaltsverluste durch die Menschenmenge bugsieren konnte. Es schien, als wäre dies die Attraktion des Abends gewesen. Durch Zufall gelangen sie später in einen anderen Bereich, eine Art Cocktailbar. Die reduzierte Lautstärke dort machte es möglich, sich einigermaßen zu unterhalten. Die Zuhilfenahme von Gestik und Mimik machte die Konversation nun etwas leichter.
Nach fünf derben Körben für Michael und einem Beinahe-Gehörsturz bei Bertram, entschlossen sie sich das Lokal zu verlassen. Soviel stand für Gunter und Bertram fest: Es war eine völlige Pleite. Michael versuchte noch verzweifelt durch Verfeinerung der Definition völlige Pleite die Lage zu retten, doch es gelang ihm nicht. Er war in Serie abgeblitzt, er verstand die Welt nicht mehr. Früher waren seine Sprüche Top gewesen und heute? Grufti hatte eine zu ihm gesagt und das, obwohl er ein Hifiger-Hemd anhatte.

 

„Na, du Oberaufreißer, habe ehrlich gesagt heute Abend nicht viel von dir lernen können!“ Als sie wieder zu Hause waren, konnte sich Gunter die Bemerkung beim besten Willen nicht verkneifen. Innerlich war er schadenfroh und grinste dementsprechend Michael an. Was glaubte Michael zu sein. Mit ein paar flotten Sprüchen Frauen anzubaggern und sie anschließend abschleppen zu können? Für wie blöd hielt er die Frauen? Und bei welchen Frauen hatte so etwas jemals geklappt? Er war froh, dass es nicht funktioniert hatte, dass er nichts lernen konnte. Sein Frauenweltbild war wieder heil, das von Michael alles andere.